Kulturbrief aus Wadi Halfa, Sudan

 

»Wadi Halfa wird untergehen«, heißt es in Ingeborg Bachmanns »Der Fall Franza«. Als sie dies in den Entwürfen zu dem unvollendeten Teil des »Todesarten«-Projekts niederschrieb, war der kleine Ort im Sudan, an der Grenze zu Ägypten gelegen, bereits verschwunden. Untergegangen in den Fluten des Nasser-Sees, der durch den Assuan-Staudamm entstand. Die damaligen Bewohner wurden in eine neue Siedlung gleichen Namens umgesiedelt, ein paar Hundert Kilometer weiter südlich, unterhalb des gefluteten Landes. Ein heutiger Besuch der wenigen Häuser des ursprünglichen Wadi Halfa wäre nur für gutausgerüstete Taucher möglich. Eine solche Spurensuche ist nicht nur mühsam, sondern auch entbehrlich, denn Wadi Halfa existiert: es existiert gerade durch seine Auslöschung, durch seine Nichtexistenz. Denn Ingeborg Bachmann stilisierte Wadi Halfa, das sie als eine der letzten Menschen während ihrer Ägyptenreise des Jahres 1964 kurz vor seinem Untergang besuchte, zum symbolischen Nicht-Ort, zum Utopia.
     Der Anstoß zu dieser Reise nach Ägypten und in den Sudan ging von dem neun Jahre jüngeren Österreicher Adolf Opel aus, den sie kurz zuvor in Berlin kennenlernte. Dieser hat nun ein nachträgliches Tagebuch über die gemeinsame Reise zusammengestellt und ein aufwendiger Bildband mit stimmungsvollen Schwarzweißphotos ist entstanden. Da nur wenige biographische Äußerungen über Ingeborg Bachmann existieren - der persönliche Nachlaß ist zudem gesperrt -, besitzt Opels Begleittext einen gewissen Seltenheitswert.
     Das Bild einer kränkelnden, verhätschelten und empfindlichen Diva entsteht aus seinem Bericht, ebenso auch das Gegenbild einer unkomplizierten, lebenslustigen und aufgeschlossenen Frau. »Je primitiver die Verhältnisse wurden, desto kräftiger behauptete sich ihr Wille zur Selbsterhaltung«. Als ihr damaliger Liebhaber plaudert Opel sexuelle Ausschweifungen aus, die auch Bachmann - literarisch verschlüsselt - festgehalten hat. Seit dem Erscheinen des »Todesarten«-Projekts (1995) sind diese Notizen und Entwürfe zu »Der Fall Franza« bekannt und mehrfach genüßlich zitiert worden. Opel verrät, daß der beschriebenen menage à quatre zwischen Franza und drei Arabern eine »Athener Orgie« zwischen Bachmann, Opel und zwei Griechen zugrunde liegt. Über den Wert solchen Klatsches mag man geteilter Meinung sein, jedoch veranschaulicht Opel an diesem und anderen Beispielen, wie Bachmann Biographisches in ihre literarischen Texte eingebaut hat.
     Bachmanns wirkliche und Franzas fiktive Reise führte jeweils von Kairo in den äußersten Süden und wieder zurück. Wadi Halfa wird für Bachmann wie auch für ihre Figur zum End- und Wendepunkt der existentiellen Reise ans Ende der Welt. Bachmanns erster, enttäuschender Genuß von Haschisch in Athen wird als bedeutungsvolles Erlebnis dorthin verlegt und zusammen mit der erwähnten »amour arabe« als Befreiung von der Zivilisation der Weißen, als »Sieg über alle Biedermänner« gefeiert. Die deutliche Anspielung auf Max Frischs Biedermann und die Brandstifter schiebt Franzas Erleben wieder in Bachmanns eigene Geschichte, und zwar auf die kurz zuvor dramatisch gescheiterte Beziehung zu dem Schweizer Schriftsteller. Die ebenfalls in Wadi Halfa eingenommene Mahlzeit - »vier schwarze Hände und eine weiße Hand«, gemeinsam aus einem Teller - erhält den Charakter einer Katharsis von allen Zwängen und Gewohnheiten. »Es ist das erste und einzige gute Essen, wird vielleicht die einzige Mahlzeit in einem Leben bleiben, die keine Barbarei, keine Gleichgültigkeit, keine Gier, keine Gedankenlosigkeit, keine Rechnung, aber auch keine, gestört hat.«
     Dieser Ort paßte jedenfalls vorzüglich in Bachmanns literarisches Konzept, da Wadi Halfa kurz nach ihrem Besuch für immer in den Fluten des Stausees versunken ist. »Ich fahre nach Wadi Halfa. Daran kann ich mich klammern. Denn es wird untergehen.« Das Einmalige des dort Erlebten wird durch die Auslöschung des Ortes und damit der eigenen Spuren überhaupt erst möglich. Der übertretende Nil wird das Geheimnis dieser wenigen Stunden auf ewig begraben. »Das Wasser ist wichtig und die Erinnerung, daß dort etwas war, einige tausend Jahre lang, daß man selbst dort war, einige Tage lang.«
     Bis auf den kurzen Abstecher nach Wadi Halfa haben die beiden hingegen ein luxuriöses Leben geführt. Opel beschreibt die ständige Sorge, ihr die Reise so angenehm wie nur möglich zu gestalten. Sie besuchen die vornehmen Restaurants und Cafés wohlhabender Ägypter und Ausländer, wohnen in den prächtigen Kolonialhotels in Gizeh, Luxor und Assuan, die Bachmann nur selten verläßt. Bei den gelegentlichen Austritten aus der europäisierten Zivilisation entwickelt sie dennoch eine besondere Sensibilität für die Fremdheit Ägyptens, seine Menschen und die unerbittliche Wüste, die sie literarisch verschiedentlich verarbeiten wird.
     Für Ingeborg Bachmann bedeutete diese Reise letztlich eine mehrfache Heilung. Nach der Rückkehr beginnt sie die Niederschrift der Büchnerpreisrede »Ein Ort für Zufälle«, die gewissermaßen eine Vorstufe des »Todesarten«-Projekts darstellt, an dem sie bis zu ihrem Tod 1973 in Rom kontinuierlich arbeiten wird. Die »arabische Liebe« wird zum Befreiungsschlag von Max Frisch. »Ich habe sie mir als einen Racheakt gedacht, und sie war keine Rache, aber die Niederwerfung lächerlicher Vorstellungen«. Die Erinnerung an Ägypten bleibt sehr lebendig, wie Briefe an Opel bezeugen. »... ich lebe, ich lebe wieder ... Dazu kommt, daß dieses unwahrscheinliche Ägypten eine Kraft hat, die anhält, die Wüste, die anhält, ich lebe davon nicht wie von einer Ration, sondern wie von einer Wirklichkeit, die stärker ist als das hier.« Für Bachmann wurde die Wüste wahrlich - wie für die Figur Franza - »zur großen Heilanstalt, zum großen Purgatorium«. »Ich denke wieder viel an die Wüste, an den Moment, wo mir das Lachen zurückgekommen ist ...«

Adolf Opel

Ingeborg Bachmann in Ägypten

Fotografiert von Kurt-Michael Westermann

Deuticke, Wien 1996

in: Literatur und Kritik, 319/320, Salzburg, November 1997