Der Philosoph als Dichter

Philipp Mainländers literarisches Vermächtnis

 

Als Philipp Mainländer den ersten Band seiner Philosophie der Erlösung am 31. März 1876 als druckfrisches Exemplar in den Händen hielt, sah er den Zeitpunkt für gekommen, sich selbst durch Erhängen zu erlösen - ein beispiellos radikaler Versuch, praktische Philosophie zu sterben. Dem Offenbacher Bürgersohn und Bankier war das Erscheinen eines einzigen Werkes Befriedigung genug, um sich mit fünfunddreißig Jahren leise von der Bühne dieser Welt zu stehlen. Sein letztes Lebensjahr stand im Zeichen eines enormen Schöpfungstriebes, der sich aus seinem nicht minder enormen Auslöschungstrieb nährte. Der den Nachlaß überantwortenden Schwester blieb nicht nur der zweite Band seines umstürzlerischen philosophischen Werkes, der zehn Jahre später erscheinen sollte, sondern auch ein nahezu alle Gattungen umfassendes literarisches Werk: Gedichte, Dramen, dramatisches Gedicht, Novelle und Autobiographie. Es scheint, als ob Mainländer lediglich zeigen wollte, daß er jede literarische Disziplin beherrscht, um dann die Schopenhauersche Verneinung des Willens nicht wie dieser durch ein genußvolles Leben in Frage zu stellen, sondern kurzerhand mit einer Schlinge zu erdrosseln.

Obwohl er der Schule des Willensphilosophen angehörte, fand sein endzeitliches Werk keinen reißenden Absatz - womöglich hätte es zu einer ungeheuren Selbstauslöschungswelle geführt. Drei Auflagen des ersten und zwei Auflagen des zweiten Bandes fanden ihren Platz in den hintersten und verstaubtesten Ecken vereinzelter Bibliotheken, ebenso das noch im Todesjahr erschienene dramatische Gedicht Die letzten Hohenstaufen, und 1899 wurde die Novelle Rupertine del Fino in der Münchener Allgemeinen Zeitung in Fortsetzungen gedruckt. Daraufhin setzte sich nichts mehr fort, es schloß sich endgültig der Sargdeckel über dem philosophischen wie literarischen Werk, ausgenommen die wenigen Huldigungen durch Geistesenzyklopädisten wie Borges, Cioran oder Ludwig Marcuse.
Bekennerkreisen allenfalls geläufig ist heute die Philosophie der Erlösung, nicht zuletzt ausgelöst durch die Renaissance Schopenhauers und seines pessimistischen Weltbildes, das sich in Zeiten apokalyptischer Untergangsszenarien entsprechender Beliebtheit und Bestätigung erfreut.
     Mainländers literarisches Werk hingegen ist vollkommen unbekannt. Dabei war Mainländer zuallererst Dichter, denn die Gedichte und das Drama Tarik sind auf das Jahr 1857/58 datiert, fast zwanzig Jahre vor seinem ultimativen Schaffensrausch am philosophischen Werk, seiner Novelle und der Autobiographie. Es gilt also nicht, Texte wieder zu entdecken, sondern sie überhaupt zum ersten Mal ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken.

Aus meinem Leben heißt die autobiographische Schrift, in welcher Mainländer in einer Mischung aus Rousseauscher Offenheit und Goethescher Stilisierung sein Leben rückblickend vor dem Leser ausbreitet. Mainländer scheut dabei nicht den Vergleich mit Christus oder gar sakrosankten Mächten: "Wir sind keine Alltagsmenschen und müssen teuer bezahlen, daß wir an der Tafel der Götter speisen."
In dem Abschnitt Meine Soldatengeschichte schildert er den "eigentümlichen Trieb, Soldat zu werden und seine vergeblichen Versuche, das Ziel zu erreichen". Seine Liebe zum Vaterland und Kasernendrill ist heutzutage zwar anrüchig, jedoch vermag er der Beschreibung seines einjährigen Soldatenlebens bei den Kürassieren in Halberstadt grotesk-komische Momente abzutrotzen. Er rüstet sich beispielsweise mit englischer, italienischer und französischer Grammatik und diversen philosophischen Werken aus, um "armen Kameraden und strebsamen Unteroffizieren" Unterricht im Feld zu geben.
     Mainländer nimmt seinen humanistischen Bildungsauftrag ernst, der nicht der Verbesserung der schlechtesten aller Welten dienen, sondern die Einsicht fördern soll, daß die Welt so schlecht sei, daß man sich nur selbst erlösen könne. Das Paradoxon seiner verkehrten Erziehung besteht darin, die Menschen so schnell wie möglich aufzuklären, damit sie ihr eigenes Elend erkennen und die geistige Freiheit besitzen, sich selbst zu erlösen.
     Mainländer ist der Untergangsmessias, dessen Leben und Werk das der gesamten Welt innewohnende Telos der Entropie, den ständigen Energieverlust bis zur chaotischen Totalauflösung, beschreibt. Er vollstreckt Schopenhauer, indem er die Verneinung des (Welt-) Willens zum Leben als Schimäre durchschaut und die individuelle Verneinung des Willens als erlösendes Ende fordert.
An den Soldaten scheitert dieser sendungsbewußte Auftrag, in seiner Familie wimmelt es hingegen von Suizidenten: der Großvater und drei Geschwister nehmen sich das Leben, mit Strick, Pistole und Messer. Seine jüngere Schwester Minna bearbeitet noch seinen Nachlaß, um daraufhin dem geliebten Bruder freiwillig ins Nirwana zu folgen.

Das literarische Werk läßt Mainländers geistige Entwicklung bis zum Vollzug seiner Philosophie der Erlösung durchsichtig werden. Es bestätigt sich der Verdacht, daß die Literatur die Antizipation seiner Philosophie und die Philosophie die Apotheose seiner Literatur darstellt.
     Tarik ist sein Debüt, das er als sechzehnjähriger Handelsschüler verfaßt. Der historische Stoff des arabischen Heerführers, der 711 den Westgotenkönig Roderich bei Gibraltar schlug, wird zu einer an Lessings Nathan angelegten Parabel über Mißgunst und religiösen Fundamentalismus gegenüber geistiger Freiheit und Großmut. Das Finale kulminiert in der Hochzeit zwischen Tarik und Roderichs Witwe Goswintha, zwischen Islam und Christentum, und die Widersacher werden mit Barmherzigkeit überschüttet. "Selbstverständlich ohne allen poetischen Wert" sei dieses Drama, hat Mainländer im Rückblick gemeint, dessen allzu versöhnende Botschaft nicht zu übersehen ist.
     1858 bis 1863 lebt Mainländer als Handelskaufmann in Neapel. Diesen Zeitabschnitt hat er wiederholt als den schönsten seines Lebens bezeichnet, und sein literarisches Werk ist angefüllt von den arkadischen Eindrücken. Die dort entstandenen Gedichte zeigen einen schwärmerischen Jüngling, der allerdings schon vom bitteren Kelch des Lebens getrunken hat; er ließ in Offenbach eine Freundin zurück, die sich anderweitig verloben sollte.
     In seinen Mußestunden macht er sich mit italienischen Klassikern von Dante bis Leopardi vertraut, und er selbst besingt den Golf von Neapel, die Sonne bei Capri, die Genüsse südländischen Lebens, aber auch von Tod und Wahnsinn.
In einem Buchladen entdeckt er Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung, ein Werk, das er wie im Rausch verschlingt. Nietzsche sollte sechzehn Jahre später in Sorrent Mainländers Philosophie der Erlösung entdecken. "Wir haben viel Voltaire gelesen: jetzt ist Mainländer an der Reihe" hat der andere große Schopenhauer-Vollstrecker 1876 notiert.
     In Neapel beginnt Mainländers Beschäftigung mit der Geschichte der Hohenstaufen, da deren Verflechtungen mit Süditalien sein Interesse geweckt hatten. Nach seiner Rückkehr verfaßt er Die letzten Hohenstaufen, ein Untergangsepos über Nachkommen Friedrich II. wie Enzo, Manfred und Conradino.
     Das dramatische Gedicht wird zum Ausdruck seiner "poetischen Geschichtsphilosophie", Schopenhauers Grundgesetz des Leidens steht über den Handlungen der Protagonisten, die ihr Leben mit Wonne aushauchen: "Es ist mir Alles d'ran/ Gelegen, daß Du gerne, nicht bloß muthig/ Dein junges Leben giebst. Der Tod/ Soll Dir kein Uebel, - nein! - Erlösung sein."
Die Druckfahnen des 1864/65 gemeinsam mit der Schwester Minna verfaßten Werkes hat Mainländer noch kurz vor seinem Tode korrigiert, das Erscheinen erlebte er nicht mehr.

Die Komödie Die Macht der Motive schrieb er im Jahre 1867. Das Motto Molières - "Das Ziel der hohen Komödie ist, die Menschen zu bessern, indem man sie unterhält" - verweist auf den literarhistorischen Kontext dieses Fünfakters. Ein reicher Schloßherr von edler Gesinnung lädt vier potentielle Erben zu sich, maskiert sich als Geiziger, Misanthrop und eingebildeter Kranker, um die Tartuffes zu prüfen. Das Spiel ist schnell durchsichtig und scheidet sich in die 'Guten und Bösen', nur Benno von Echtermann muß in seiner aus Not diktierten Erbschleicherei erst noch seinem Namen gerecht werden.
     Mainländer verwendet als komödiantischen Katalysator Schopenhauers Terminus des 'Motivs', das den unveränderlichen Grundcharakter des Menschen bestimmt; die Motive behaupten ihre Macht und belegen die Determination des Einzelnen. Graf Freiberg und Echtermann tragen eindeutig Züge ihres Schöpfers, letzterer wie Mainländer durch familiäre Verpflichtungen gebunden, von welchen er sich geistig emanzipieren muß, ersterer als praktische Philosophie lebender, eremitischer Geistesmensch. Dieses Modell wird in der Novelle Rupertine del Fino, die in den letzten Lebenswochen entstand, noch deutlicher. Eine Dreieckskonstellation mit edelmütigen Menschen, die jedoch von Motiven und Leidenschaften getrieben, ihrem Schicksal nicht entweichen können. Die Anklänge an Die Wahlverwandtschaften sind deutlich, die chemische Gleichnisrede in Goethes Roman wird in Rupertine zum entropischen Gleichnis.
     Die Trichotomie von Künstler, Philosoph und Naturwesen wird an den Figuren exemplarisch vorgeführt. Der Philosoph Karenner verkörpert das besonnene, quietistische Ideal Mainländers, der aus Einsicht in die Unverbesserlichkeit der Welt ein zurückgezogenes, diszipliniertes Gelehrtendasein führt, sein Widerpart ist ein sich nach Liebe und Lebensfreude verzehrender Maler, der auf diese Weise - wie die naturhafte Titelfigur Rupertine - seine Energie verbrennt; Karenner bleibt nach dem Verlust seiner zwei Freunde allein zurück.
Mainländer selbst sollte wenig später die fiktionale Existenz des Philosophen Karenner real vollenden: die Verneinung des Willens zum Leben in seiner endgültigen Konsequenz.

Einhundertzwanzig Jahre nach Mainländers Freitod ist die Menschheit um so viele Illusionen ärmer geworden, daß sich dieses pessimistische Weltbild nahtlos in unsere katastrophenreiche Zeit einfügt. Mainländer erscheint in diesem Licht wie ein Prophet, der dem Menschen in geradezu beglückender Klarheit die Bestätigung gibt, daß Hoffnung nur ein Prinzip sein kann. Mainländer entscheidet sich nicht für den Glauben an eine Utopie, sondern für den - konsequenteren - Glauben an das Nichts. Sein eigenartiges Werk gilt es nun zu entdecken; kein Schatz, aber doch philosophisch-literarische Perlen.

in: die horen, Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik, Nr. 191, 1998