Von Engeln und anderen Belanglosigkeiten

Agnès Desarthes Pariser Wintermärchen »Ein Geheimnis ohne Belang«

 

»Jeder glaubt ein Geheimnis zu haben. Für die einen ist es Schmerz, für die anderen ist es Freude. Doch das ist ohne Belang, denn eines Tages wird eine gleichgültige Hand kraftlos vom Himmel kommen und sie auflesen.« Das Motto von »Ein Geheimnis ohne Belang« ist auch der Schlußsatz. Dazwischen liegen die kleinen, irdischen Geheimnisse, die an sich so unwichtig sind und dabei die ganze menschliche Tragik beinhalten. Denn Agnès Desarthe reiht Heimlichkeiten, Rätsel und Mysterien aneinander, die Bedeutung erhalten. Mit zarten Pinselstrichen, leisen Zwischentönen und feinen Andeutungen skizziert sie sechs Menschen in Paris, die aneinander vorbeihuschen, für einen Moment zusammentreffen und wieder auseinandergehen. Schwerelos und tiefsinnig, heiter und todtraurig, komisch und tragisch treten diese Entwürfe immer deutlicher ans Licht und formen sich zu einem stimmungsvollen Gruppenbild. Die letzten Geheimnisse werden nicht gelüftet, denn »Ein Geheimnis ohne Belang« ist so erfunden wie das Leben und so wahr wie ein Märchen. Ein Pariser Wintermärchen mit überraschendem Happy End.
     Dan und Émile sind Freunde, Sonja ist Dans Frau, Violette ist Émiles Nachbarin, Harriet ist Émiles Sekretärin und Gabriel promoviert bei Dan. Bei einer Feier kreuzen sich ihre Wege und für jeden erfüllt sich das vorbestimmte Schicksal. Danach bricht jeder in eine veränderte Zukunft auf, die sterbende Sonja entschwebt als »herzloser Engel« und ordnet noch kurz vor ihrem endgültigen Verschwinden die Geschicke der anderen.
     Agnès Desarthe knüpft zwischen den Figuren ein unsichtbares Band, nämlich deren jüdische Herkunft. Dan, Émile und Sonja haben als Überlebende des Holocaust seit fünfzig Jahren in Frankreich ihre Heimat und ziehen ihre Lebensbilanz. Violette hat ihren Mann 1973 im Jom-Kippur-Krieg verloren und schluckt seitdem Tabletten. Harriet und Gabriel sind junge Karrieristen, die sich einer streng jüdischen Erziehung entzogen haben. Die drei Generationen sind weniger durch ihre Religiosität verbunden - »ein Rabbiner ist eine Art Angestellter hinter den Schaltern der Bank Gottes« -, als durch ein verwandtes Lebensgefühl, einen ähnlichen Humor und witzig-groteske Verhaltensweisen. Diese gemeinsame jüdische Identität entspringt nicht - wie bei vielen Geschichten jüdischer Autoren nach 1945 - ausschließlich aus ihrer negativen Anbindung an den Holocaust. Allerdings sind der Wohnort Paris und die jeweiligen Lebensgeschichten nicht denkbar ohne den Völkermord an den Juden, der kaum Erwähnung findet, aber als Wegmarke hinter jeder Person steht. »Die Vergangenheit ist der Tod. Sie müssen sich dem Leben zuwenden«, lautet der Rat von Violettes Arzt. »Und wartet am Ende der Zukunft nicht auch der Tod?« entgegnet diese. Dazwischen jedoch liegt das Leben.
     Dem huldigt Desarthe mit einer Liebesgeschichte, einer unerwarteten Begegnung zwischen Vater und Sohn, einem mutigen Neuanfang, einem Familienfest und dem Flug eines Engels in das Paradies, das »nicht mehr als eine gekachelte Arbeitsplatte, eine Edelstahlspüle und ein kleiner Backofen ist«. Mystik und Realität, Glaube und Rationalität, Vergangenheit und Zukunft werden vereint, aber nicht verwischt. Die Geschichte darf nicht vergesssen werden, aber in der Gegenwart muß gelebt werden. Ein Roman, der trotz des Kulturbruchs unseres Jahrhunderts wieder an die Normalität jüdischen Lebens glaubt. Desarthe verliert nie ihre Geschichte und ihre Figuren aus den Augen und schreibt unprätentiös und treffsicher von den letzten Dingen, die spätestens dann ihren ernsten Hintergrund preisgeben.
      »Ein Geheimnis ohne Belang«, das zweite Erzählwerk der dreißigjährigen Desarthe, war in Frankreich ein großer Erfolg. Der neugegründete Berliner Fest Verlag hat für das deutsche Publikum eine junge Autorin mit beachtlichem Talent entdeckt, die mit großer Leichtigkeit eine tiefgründige Parabel über die menschliche Existenz erzählt.

Agnès Desarthe

Ein Geheimnis ohne Belang

Aus dem Französischen von Christiane Seiler

Alexander Fest Verlag, Berlin 1997